Bliefert, Ulrike - Luegenengel by Ulrike Bliefert

Bliefert, Ulrike - Luegenengel by Ulrike Bliefert

Autor:Ulrike Bliefert [Bliefert, Ulrike]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-26T05:00:00+00:00


17

Ein Virus machte Leonie bei ihrem Vorhaben, mit Sonja unter vier Augen zu sprechen, vorerst einen Strich durch die Rechnung: Nicky bekam hohes Fieber, Dr. Fenner, der Hausarzt, musste vorbeikommen und ein paar Tage lang sah es so aus, als müsse Nicky mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus. Sonja machte kein Auge zu, saß Tag und Nacht an Nickys Bett und machte Wadenwickel, und Leonie hatte das Gefühl, dass sie in der schlimmsten Fiebernacht sogar geweint hatte. Aber vielleicht waren ihre rot verquollenen Augen auch nur das Resultat von Stress und Übermüdung. Leonie bot sich an, sie abzulösen, aber es bedurfte eines Machtwortes von ihrem Vater, dass Sonja endlich nachgab. »Wenn das Fieber wieder hochgeht, musst du alle zwei Stunden die Wickel erneuern«, schärfte sie Leonie ein. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer. Nicky schlief zwar unruhig, aber sein Kopf glühte nicht mehr wie an den Tagen zuvor, und den schrecklichen Husten hatten die Medikamente ebenfalls gelindert. Leonie suchte auf der Campingliege, die Sonja aus dem Keller hochgeschleppt hatte, vergeblich eine einigermaßen bequeme Lage. Von Zeit zu Zeit nickte sie ein, nur um kurz danach wieder aus dem Schlaf hochzufahren und auf Nickys Atem zu lauschen. Irgendwann gab sie es auf. Sie hatte einen romantischen Jahrhundertwende-Krimi auf ihrem Nachttisch liegen: London zur Zeit Jack the Rippers. Genau das Richtige für eine schlaflose Nacht! Eine heiße Schokolade dazu wäre auch nicht schlecht, dachte sie, als sie mit dem Schmöker unter dem Arm ihr Zimmer verließ. Auf Zehenspitzen schlich sie die knarrende Treppe hinunter in die Küche. Sie füllte den blau getupften Becher – ein Geschenk von Connie – mit Schokoladenpulver und Milch und stellte ihn in die Mikrowelle. Als das Gerät in der nächtlichen Stille des Hauses einen überlauten Signalton von sich gab, fuhr sie regelrecht zusammen. Sie lauschte. Nichts. Offenbar hatte sie niemanden geweckt. Erleichtert machte sie sich auf den Rückweg, löschte das Licht in der Küche und tappte die im Halbdunkel liegende Treppe hoch. Im Nachhinein war ihr nicht klar, ob es ein Luftzug, ein Geräusch oder auch nur eine ungute Vorahnung war, die sie auf halbem Weg hatte innehalten lassen. Sie schaute nach oben. Das Geräusch nackter Füße näherte sich, dann streifte cremefarbene Seide das Geländer und entschwand ebenso schnell aus ihrem Blickfeld, wie sie erschienen war. Zu ihrer Rechten wurde leise eine Tür geöffnet und geschlossen. Das Schlafzimmer ihrer Eltern! Ihr Herz klopfte plötzlich bis zum Hals: Das konnte nicht sein! Sie erinnerte sich an dasselbe Bild ein paar Monate zuvor: Damals hatte sie geglaubt, sie sehe Gespenster.

Entschlossen stellte sie ihre Sachen auf dem Fenstersims ab und rannte die Treppe hoch. Ihre Hand schwebte für ein paar Sekunden über der Klinke zum Schlafzimmer ihres Vaters; dem Raum, den er Nacht für Nacht mit ihrer Mutter geteilt hatte. Sie stellte sich vor, wie lächerlich sie sich machen würde, wenn sie jetzt ins Zimmer geplatzt käme: »Ich habe Mama gerade hier reingehen sehen...« Sie zog ihre Hand zurück. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle hoch. Sie presste die Hand auf den Mund.



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